Beethovens 9. Symphonie zum Berühren.

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Vor einem schwarzem Hintergrund sieht man das Gesicht eines lachenden japanischen Kindes, seine weiß behandschuhten Hände und Lichtspuren in Grün, Lila und Rot.

Das Gesicht eines Kindes strahlt vor Freude, während seine kleinen behandschuhten Hände wunderschöne Lichtmalerei betreiben – die auch Klang ist. Als sich der „White Hands Chorus“ in Japan an Canon wandte, ahnte noch niemand, dass sie bald auf der ganzen Welt bekannt sein und in Europa auf der Bühne stehen würden. Durch das starke Zusammenspiel von Poesie, Musik, Fotografie und Druck haben ihre Auftritte nun eine multidimensionale kreative Wirkung, die „Kyosei“ in Reinform darstellt: Leben und Arbeiten für das Gemeinwohl.

Und überraschenderweise begann diese Geschichte schon vor 200 Jahren im Theater am Kärntnertor in Wien. Dort stand nämlich Ludwig van Beethoven auf der Bühne und musste eine Menge beweisen. Er hatte seit einem Jahrzehnt keine neuen Kompositionen mehr vorgestellt. Der Musikgeschmack in ganz Europa hatte sich verändert. Außerdem machten Gerüchte über seinen geistigen Zustand die Runde. Und er war zu diesem Zeitpunkt bereits hochgradig taub. An diesem Tag stand er mit einem kompletten Orchester (und ebenso vielen Personen, die gesungen haben) auf der Bühne, um sein neuestes Werk aufzuführen. Sechs Jahre hatte er daran gearbeitet: Die Symphonie Nr. 9 in D-Moll, Opus 125. Und für die damalige Zeit war das Stück wirklich progressiv.

Als die Symphonie dann mit dem phänomenalen Chorgesang „Ode an die Freude“ (nach einem Gedicht von Friedrich Schiller) ihren Höhepunkt erreichte, brach das Publikum in Jubel aus. Und Beethoven konnte es nicht hören. Die Altistin Caroline Unger trat schließlich an ihn heran und drehte ihn vorsichtig herum, so dass er den Applaus des Publikums sehen und entgegennehmen konnte. Auch 200 Jahre später gilt die „Ode an die Freude“ auf der ganzen Welt als absolutes Meisterwerk. Der Jahrestag dieser bedeutenden Uraufführung wird überall in Wien auf vielerlei spannende und neue Art und Weise gefeiert. Und hier kommt der japanische „White Hands Chorus“ ins Spiel. Die Freude des Chors darüber, dass er sich mit einer eigenen Aufführung, für die jahrelang geprobt wurde, sowie einer Ausstellung, zu den Jubiläumsfeierlichkeiten beitragen konnte, war übergroß.

Ein Fotodruck, auf dem viele Menschen zu sehen sind, die nach links schauen und ihre weiß behandschuhten Hände heben. Daneben ist ein Videobildschirm zu sehen, der eine Frau mit ausgestreckten Armen zeigt. Die Bildunterschrift lautet: Alle Menschen werden Brüder.

Die Ausstellung, die den Besuch des „White Hands Chorus" in Wien begleitete, war multisensorisch. Sie nutzte Audio-, Video- und taktile Drucktechniken, um die Darbietungen der jungen Menschen zum Leben zu erwecken.

Der „White Hands Chorus Nippon“ (WHCN) wurde 2017 von der künstlerischen Leiterin Erika Colon gegründet. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, die soziale Inklusion durch Musikerziehung zu fördern. Mehr als die Hälfte der Chormitglieder ist gehörlos oder schwerhörig, sehbehindert, in ihrer Entwicklung beeinträchtigt oder sitzt im Rollstuhl. „Seit den Anfängen unseres Chores fordern wir die Kinder mit einem Repertoire heraus, das Tradition und eine Bedeutung für ihr Leben hat“, erklärt Erika Colon. Sie hat das Gefühl, dass insbesondere die „Ode an die Freude“ bei den jungen Menschen, mit denen sie arbeitet, großen Anklang findet. Deshalb haben sie und der WHCN die letzten vier Jahre damit verbracht, Beethovens und Schillers Meisterwerk in eine neue Form namens „Shuka“ (Handgesang) zu übersetzen. Das ist eine Kombination aus Gebärdensprache, Bewegung und Mimik, mit der die 9. Symphonie auf eine ganz neue Art und Weise zum Leben erweckt wird.

Ihre Reise in die Heimat der Uraufführung der „Ode an die Freude“ begann mit der Bemerkung. Nach ihrer ersten Aufführung im Jahr 2021 sagte eines der Chorkinder zu Erika: „Ich wünschte, Beethoven könnte unsere Aufführung seines Meisterwerks in Gebärdensprache sehen.“ Sie war davon so bewegt, dass sie und ihre kreative Mitarbeiterin Mariko Tagashira fest entschlossen waren, den Kindern eines Tages die Möglichkeit zu geben, dem Geist Beethovens ganz nah zu kommen und ihre Aufführung nach Europa zu bringen.

Als die erfahrene Sopranistin Erika Colon während eines Schulbesuchs mit gehörlosen Kindern zusammentraf, kam ihr die Idee für den heutigen WHCN. Die Kinder baten sie, für sie zu singen. Da war ihr sofort klar, dass sie sich „auf eine Welt ohne Ton einlassen musste“, erzählt sie. „Es ist völlig falsch zu glauben, dass Musik nicht existiert, nur weil man sie nicht hören kann. Es gibt etwas jenseits der Töne, das die Menschen verbindet.“ Seit dieser Erfahrung vor zwanzig Jahren hat sie sich eingehend damit beschäftigt, wie Gehörlose Musik wahrnehmen. Diese Erfahrung bringt sie in ihre Arbeit als Chorleiterin ein.

Zwei Paare kleiner Hände halten und betasten mit den Fingern haptische Fotos.

Jedes Bild, das Mariko Tagashira von den Kindern aufgenommen hat, wurde vom Canon Production Printing-Team in den Niederlanden in Reliefdrucke verwandelt.

Eine dunkelhaarige Frau, die etwas zu erklären scheint, steht inmitten einer Gruppe von Menschen. Neben ihr steht eine junge Person mit weißem Hut und Brille, die ihre Hände wie in der Gebärdensprache hochhält und breit lächelt.

Für die Gründerin der Organisation, Erika Colon (links im Bild bei der Eröffnung der Ausstellung), ging mit dem Besuch des „White Hands Chorus“ in Wien ein Traum in Erfüllung.

Daher waren sie, Mariko Tagashira und der WHCN begeistert, als die jahrelange Arbeit an diesem komplexen und nuancierten Stück anerkannt wurde und sie sich schließlich auf den Weg zu dem Ort machten, an dem Beethoven das Stück selbst uraufgeführt hat. Sie wurden eingeladen, ihre Interpretation der „Ode an die Freude“ auf einem exklusiven Galakonzert bei der Vertretung der Vereinten Nationen in Wien aufzuführen. Diese ist Teil der „Zero Project Conference“, die sich mit den Rechten von Menschen mit Beeinträchtigungen auf der ganzen Welt befasst. Es war eine emotionale Erfahrung für alle Beteiligten – vor allem aber für die Kinder und ihre Eltern. „Es war wirklich bewegend. Ich war so stolz auf die Kinder. Und ich war so glücklich, dass ihre Eltern und alle, die die Kinder unterstützt haben, ihren Auftritt voller Liebe verfolgten“, berichtet sie. „Wir konnten wirklich spüren, dass die Kinder darauf reagierten. Das Publikum und die Kinder kommunizierten miteinander auf einer ganz speziellen Ebene – das machte diesen Moment zu etwas wirklich Besonderem.“

Die angesehene Fotografin Mariko Tagashira konnte dieser Performance durch eine Ausstellung im renommierten WestLicht Museum of Photography noch eine weitere neue Dimension hinzufügen. Zuvor hatte sie die Chormitglieder in einem dunklen Raum fotografiert. Dabei trugen sie weiße Handschuhe mit LED-Leuchten in den Fingerspitzen. Als sie dann ihre Hände wie zum "Singen" bewegten, hielt Mariko Tagashira den Schwung ihrer Gesten mit einer Langzeitbelichtung im Bild fest. So fing sie die Lichtspuren ein, die nun auch ein Teil dieser Symphonie sind.

Nachdem jedoch die Erstausstellung dieser Bilder von einem blinden Kind besucht wurde, kam sie zu einer Erkenntnis: „Ich hatte die Fotos hauptsächlich für diejenigen ausgestellt, die sehen können.“ Glücklicherweise pflegt Mariko Tagashira schon seit einiger Zeit gute Beziehungen zu Canon in Japan und beschloss, sich mit ihren Gedanken dorthin zu wenden. „Sie unterstützten mich mit vollem Einsatz. Sie stellten mich einem Expertenteam in den Niederlanden vor, das über großartige technische Möglichkeiten verfügt.“ Sie meint damit die Canon PRISMAelevate XL-Software und die Arizona-Drucksysteme. Durch das Aufschichten der Tinte lassen sich erstaunliche „Reliefdrucke“ erzeugen, die man mit den Fingern ertasten kann. Die Besucher der Ausstellung im WestLicht konnten dann die Lichtspuren der Musik ertasten, die Mariko Tagashira mit den Chormitgliedern eingefangen hat. Natürlich war diese Technologie auch in der Lage, Erklärungen zu jedem Kunstwerk in Blindenschrift zu drucken, um weitere Details hinzuzufügen. „Ein Elternkommentar hat mich tief bewegt“, erinnert sich Mariko Tagashira. „Sie meinten, dass diese Fotos die Gefühle einfangen, die tief im Unterbewusstsein ihrer Kinder verborgen sind.“

Beethoven selbst machte sich die Arbeit eines Dichters zunutze, um sein eigenes Werk zu verbessern. Außerdem schlug er neue Wege des Komponierens ein, als sein Gehör nachließ. Erika Colon, Mariko Tagashira und der „White Hands Chorus“ haben neu definiert, was es bedeutet, Musik zu erleben, indem sie sich allen Sinnen zuwandten und die Technologie nutzten, damit die „Ode an die Freude“ für alle erklingen kann. Erika Colon hat das Projekt „Visible An die Freude“ genannt. Sie hofft, dass es „alle gesellschaftlichen Schranken überwindet und einer viel größeren Anzahl von Menschen auf der ganzen Welt ‚Freude‘ bringt.“

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