Wie erzählt man eine Geschichte in einem Sekundenbruchteil?

Fünf weltberühmte Fotografen sprechen darüber, wie in einem einzelnen, beeindruckenden Bild eine Erzählung aufgebaut und Emotionen vermittelt werden können. Außerdem verraten sie ihre Lieblingstechniken, um Augenblicke festzuhalten.
Ein Bild von oben, das Gruppen von Personen zeigt, die auf einem Platz stehen. Durch die Langzeitbelichtung wirken die Menschen, die lange Schatten auf den Boden werfen, verschwommen.

„Ich bin der Meinung, dass jedes Bild eine Geschichte erzählt“, erklärt Dokumentarfotografin Laura El-Tantawy. „Es erzählt dem Fotografen eine Geschichte, die seine eigene Erfahrung und Vergangenheit betrifft, aber genauso seine Erfahrung in einem bestimmten Moment. Und dann erzählt das Bild dem Betrachter eine ganz eigene Geschichte.“ Dieses Bild namens „The Square I Remember“ (Der Platz, an den ich mich erinnere), stammt aus El-Tantawy Projekt von 2005–2014, „In the Shadow of the Pyramids“ (Im Schatten der Pyramiden). Aufgenommen mit einer Canon EOS 400D (mittlerweile ersetzt durch das Nachfolgemodell Canon EOS 850D) und einem Canon EF 24-105mm f/4L IS II USM Objektiv bei 55 mm, Verschlusszeit 1/3 Sek., Blende 1:7.1 und ISO 800. © Laura El-Tantawy

Fotografen halten ein mächtiges Werkzeug in den Händen, mit dem sie Augenblicke festhalten können. Das Konzept des Storytellings in nur wenigen Millisekunden ist kein neues, aber an der Fähigkeit, Erzählungen in einem einzigen Bild zusammenzuführen, Emotionen auszudrücken und Vergangenes zu dokumentieren feilen Fotografen jahrelang bis zur Perfektion.

Wie machen Experten das? Vor der Redline Challenge 2022, die das Thema „Story in Sekundenbruchteilen“ hat, haben wir mit fünf Canon Botschaftern aus verschiedenen fotografischen Genres gesprochen, um zu verstehen, wie sie Storytelling interpretieren und Bedeutungen mit nur einem einzelnen Bild festhalten.

Laura El-Tantawy wurde in Großbritannien als Kind ägyptischer Eltern geboren. Ihre Arbeit als Dokumentarfotografin zeichnet sich durch Geschichten über Identität und Zugehörigkeit aus. Helen Bartlett ist eine der angesehensten Familienfotografinnen in Großbritannien. Sie macht Ihre Schwarz-Weiß-Bilder in natürlichen Umgebungen. So erhalten Betreffende den Freiraum, ihre Geschichte zu erzählen. Der kenianische Naturfotograf Clement Kiragu ist für seine eindrucksvollen Bilder bekannt und glaubt daran, dass er Tieren eine Stimme geben und mit der Fotografie ihre Geschichten erzählen kann. Marcin Kin aus Polen hat die Welt bereist und die Besonderheiten des Extremsports eingefangen. Die letzte Botschafterin, die uns ihre Sicht auf das Storytelling mittels Fotografie verrät, ist die südafrikanische Fotojournalistin Gulshan Khan. Ihr Ziel ist es, auf Probleme in ihrer Gegend aufmerksam zu machen, beispielsweise die Plastikverschmutzung, der Zugang zu Wasser, sicheres Wohnen und die Geschlechterproblematik.

Laura El-Tantawy

Für El-Tantawy ist es kein Neuland, Geschichten mit nur einem einzigen Bild zu erzählen. Da sie selbst zwischen zwei Kulturen aufwuchs, beschäftigte sie sich oft in Form von abstrakten und impressionistischen Bildern mit Gedanken über die Gemeinschaft und Identität. Ihre Arbeiten befassen sich häufig mit solch bedeutungsvollen Themen weshalb Storytelling für El-Tantawy ein emotionales Konzept ist.

Das obige Foto einer Menge auf dem Tahir-Platz ist entstanden, als El-Tantawy zu einer Zeit politischer Unruhen auf die Straßen von Kairo hinabblickte und sah, wie Fremde in Paaren oder kleinen Gruppen zusammenkamen. „Ich wollte einfach nur ausdrücken, was ich vor mir sah, das Gefühl der Euphorie, als ob man in einer Art Traumzustand wäre. Es ging einfach darum, zu fühlen, was gerade passierte und davon geleitet zu werden, was um mich herum geschah“, sagt sie.

El-Tantawy erzählt Geschichten gerne über Einzelbilder, wofür sie mit langsamen Verschlusszeiten experimentiert. „Ich reagiere so instinktiv auf Dinge. So werden Momente visuell artikuliert, die Zeit wird verlangsamt und Dinge werden auf eine Weise dargestellt, die nicht der Realität entsprecht. So erhält man eine Vorstellung davon, was man mit den Augen gesehen hätte.“

El-Tantawys Tipp rät Fotografen, die mithilfe langsamer Verschlusszeiten eine Geschichte erzählen möchten, stillzustehen und sich vom Prozess leiten zu lassen. „Wenn du bewusst vorgehst, wirst du deine Begeisterung für langsame Verschlusszeiten entdecken und das Potenzial von langsamen Verschlusszeiten erkennen, wenn es darum geht, die Welt festzuhalten“, fügt sie hinzu.

Auf die Frage, was ihr Storytelling leitet, erklärt sie: „Was mich an der Fotografie fasziniert, ist nicht speziell das Beantworten einer Frage. Wahrscheinlich, weil ich selbst eher Fragen stelle, als Antworten zu bekommen, wenn ich die Welt mit meiner Kamera bereise.“

Logo der Canon Redline Challenge.

Die Redline Challenge

Erfahre mehr über das diesjährige Thema „Eine Story in Sekundenbruchteilen“ und wie du deine Fotos hochlädst.
Ein Dirtbike-Fahrer macht in einer schlammigen Pfütze auf einem Waldweg einen Wheelie und spritzt dabei Wasser auf.

Extremsportfotograf Marcin Kin erinnert sich an die Arbeit mit diesem Fahrer, um die Geschichte von Hard Enduro zu erzählen. Mithilfe des Wassers wurde die Geschwindigkeit des Fahrers verdeutlicht. Aufgenommen mit einer Canon EOS-1D X (mittlerweile ersetzt durch das Nachfolgemodell Canon EOS-1D X Mark III) mit einem Canon EF 300mm f/2.8L IS II USM Objektiv, Verschlusszeit 1/8000 Sek., Blende 1:2.8 und ISO 200. © Marcin Kin

Marcin Kin

Kin ist für seine unverwechselbaren Extremsportaufnahmen bekannt. Wenn er eine Geschichte erzählen möchte, sucht er nach einzigartigen Möglichkeiten, um die Geschwindigkeit einer Sportart darzustellen. Das kann beispielsweise Wasser, Schlamm oder Staub in der Luft sein. Für ihn ist das perfekte Bild eines, „über das du nicht sprechen musst. Wenn du dir das Bild ansiehst und schon alle Antworten kennst – ist es ein gutes Foto.“

Das oben gezeigte Bild liebt er, weil es so viel über den Sport aussagt. „Hard Enduro ist sehr technisch. Es ist schwer und aufgrund der Geschwindigkeit riskant. Du musst dein Bike und deinen Körper kennen“, sagt er.

Kins Tipp an Fotografen, die die Geschichte hinter einem Sport einfangen möchten, ist, so viel wie möglich darüber in Erfahrung zu bringen. So weiß man, was einen erwartet. Ihm zufolge hilft es, eine Kamera und ein Objektiv mit Bildstabilisierung zu verwenden. Außerdem schlägt er vor, das Einfangen von Bewegung zu üben, indem man am Straßenrand fotografiert. Er stellt die Verschlusszeit so kurz und die Blendenöffnung so weit ein, wie es das Objektiv zulässt. Danach stellt er den ISO-Wert auf 6400 oder höher.

Ein Schwarz-Weiß-Bild eines ins Wasser springenden Kindes, das seine Arme so hebt, dass die Wassertropfen wie Flügel aussehen.

„Suche nach einer Aktion, einer Reaktion, einem echten Moment, und fotografiere ihn so gut, wie du nur kannst“, erklärt Familienfotografin Helen Bartlett. Bartlett nutzte hier eine kurze Verschlusszeit, um das Wasser, das von den Kinderarmen tropfte, wie Flügel aussehen zu lassen. Der schwarze Hintergrund vermittelt einen Sinn von Trennung. Aufgenommen mit einer Canon EOS-1D X mit einem Canon EF 35mm f/1.4L USM Objektiv (mittlerweile ersetzt durch das Nachfolgemodell Canon EF 35mm f/1.4L II USM) mit einer Verschlusszeit von 1/8000 Sek., Blende 1:2.8 und ISO 2000. © Helen Bartlett

Helen Bartlett

Bartlett lässt sich von ihrer Überzeugung inspirieren, dass jede Familie ihre eigene einzigartige Energie hat. Sie fotografiert vor Ort, fängt flüchtige Momente ein, nutzt Emotionen und sieht das Konzept Storytelling als etwas sehr umfangreiches. Dazu meint sie: „Eine Geschichte kann eine Aktion, Interaktion oder aber eine Beziehung zwischen Menschen sein. Eine Geschichte kann ein großer Moment oder ein sehr kleiner Moment sein. Es kann sich um das Spielen eines Kindes mit einem Ball, einen Sprung in die Luft oder einen Blick zwischen zwei Personen handeln.“

Bezugnehmend auf das Bild des Jungen im Pool sagt Bartlett: „Ich liebe dieses Bild, weil es die Essenz der Jugend einfängt. Er springt aus dem Pool heraus, er springt in seine Zukunft – er wächst heran.“

Bartlett fotografiert in Schwarz-Weiß, weil sie der Überzeugung ist, dass ihre Bilder dadurch zeitlos wirken. „Ich habe das Gefühl, dass ich dadurch die besten Voraussetzungen habe, um ein Bild mit langer Lebensdauer aufzunehmen“, fügt sie hinzu. „Ich möchte eine Geschichte über Menschen erzählen, und wie ich finde, sind Schwarz-Weiß-Bilder auf das Wesentliche reduziert – es gibt keine Ablenkungen.“

Bartlett rät, vor dem Fotografieren eine Beziehung zu den Betreffenden aufzubauen. „Es geht darum, eine Bindung zu schaffen. Dann werden sie sich dir öffnen und du kannst ihre Geschichte erzählen. Indem wir die Geschichten auf diese Weise erzählen, bekommen wir ein Gefühl dafür, wer sie als Menschen sind.“

Zwei Personen tanzen Salsa auf einer Dachterasse, und werden dabei von Zuschauern auf den Sitzplätzen daneben und dahinter beobachtet.

„Geschichten lassen sich mit Schatten und Licht erzählen“, erklärt Fotojournalistin Gulshan Khan. „Das macht die Magie des Bildschöpfens und der Fotografie aus: nicht den offensichtlichen Weg zu wählen.“ Khan fotografierte dieses Tanzpaar in Bewegung beim Salsatanzen auf einer Dachterrasse in Maboneng, Johannesburg, Südafrika. Aufgenommen mit einer Canon EOS 5D Mark III (mittlerweile ersetzt durch das Nachfolgemodell Canon EOS 5D Mark IV) und einem Canon EF 35mm f/1.4L USM bei Verschlusszeit 1/320 Sek., Blende 1:2.8 und ISO 50. © Gulshan Khan für The Washington Post

Gulshan Khan

Khan wird dafür gefeiert, dass sie ihre fotografische Arbeit nutzt, um auf soziale Ungerechtigkeiten und Menschenrechtsfragen aufmerksam zu machen. Sie entdeckt Geschichten, denen kein Gehör geschenkt wurde und rückt diese mit ihrer Arbeit in den Vordergrund. „Storytelling ist die Essenz der Fotografie. Ich glaube, dass hinter jedem Bild eine Geschichte steckt. Das Bild existiert nicht für sich allein“, sagt sie.

Dieselbe Logik tritt auf Khans Bild von den Salsatänzern in Johannesburg (oben) zu. „Es ist eine solch lebhafte, wunderschöne Gemeinschaft“, erklärt sie. „Ich habe vorausgesehen, dass dies genau der Moment sein würde und darauf gewartet. Das stammt vom Eintauchen in die Situation und Genießen des Moments, der Musik, der Bewegungen und des Tanzens.“

Auf die Frage nach Tipps zum Storytelling durch Fotografie erklärt Khan, dass das Festhalten eines Bildes im Sekundenbruchteil nicht immer bedeutet, dass man auch nur für einen Sekundenbruchteil dort ist. „Es mag widersprüchlich erscheinen, aber oft glaube ich, dass man Geduld haben muss, um diese Bilder in einem Sekundenbruchteil zu machen. Verstehe die Situation, stelle dich vor und sprich mit den Menschen. Werde ein Teil der Situation, sodass du im richtigen Augenblick bereit bist.“ Sie schlägt Fotografen zudem vor, sich selbst eine Herausforderung zu stellen, indem sie Bilder mit vielschichtigen Details, Ausgewogenheit und einer Perspektive einfangen, die den Betrachter dazu anregt, bei jedem Blick darauf etwas Neues zu entdecken.

Ein Schwarz-Weiß-Bild eines Löwen, der sich im hohen Gras verbirgt.

Naturfotograf Clement Kiragu nutzte den AF mit Augenerkennung für Tiere der Canon EOS R5, um diesen Löwen durch das Gras hindurch in einer einzigartigen Perspektive zu fotografieren. Aufgenommen mit einer Canon EOS R5 und einem Canon EF 24-105mm f/4L IS USM Objektiv (mittlerweile ersetzt durch das Nachfolgemodell Canon EF 24-105mm f/4L IS II USM) bei 40 mm, Verschlusszeit 1/400 Sek., Blende 1:7.1 und ISO 200. © Clement Kiragu

Clement Kiragu

Kiragu ist für seine fesselnden Aufnahmen von Tieren bekannt. Oft liegen sie im sanften Schleier des Sonnenuntergangs, und oft fotografiert er in Schwarz-Weiß.

Kiragu ist der Meinung, dass Storytelling durch Fotografie eine Art der Kommunikation ist. „Wenn du in einen Nationalpark gehst und ein Rudel Löwen findest, dann fange ihre Interaktionen ein. Denn Familiendynamiken finden sich in jeder Spezies.“

Beim Fotografieren des oben gezeigten Löwen war Kiragu entschlossen. „Dieses Bild erweckt die mysteriöse Seite von Katzen, da sie sehr geheimnisvoll sind – es gibt dir ein Gefühl für dieses Raubtier. Anhand des Augenkontakts kannst du sehen, dass es eine sehr neugierige Kreatur ist.“ Die Canon EOS R5 spielte laut Kiragu beim Aufnehmen dieses Bildes eine wichtige Rolle. „Ich wollte einen niedrigen Blickwinkel finden und mit dem dreh- und schwenkbaren Touchscreen konnte ich das Bild optimal arrangieren.“

Wenn es um das Einfangen einer Geschichte im Sekundenbruchteil geht, spielt die Ausrüstung laut Kiragu eine wichtige Rolle. Er ist davon überzeugt, dass mit kurzen Verschlusszeiten, die oft in der Naturfotografie verwendet werden, auch die unmittelbarsten Bewegungen festgehalten werden können. Er fährt fort, dass Fotografen keine Angst davor haben sollten, die Aufnahme zu verpassen. „Manchmal wird genau im Moment davor oder danach eine besonders interessante Geschichte eingefangen.“

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Das Storytelling durch Fotografie ist eine Form von Kunst, und für das Perfektionieren dieser braucht es Talent, Übung und Beharrlichkeit. Wie unsere fünf Experten gezeigt haben, gibt es nicht nur eine einzige Möglichkeit, um eine Geschichte zu erzählen. Jeder hat eine andere Herangehensweise. Khan verrät noch einen letzten Tipp: „Wenn man sich eines zu Herzen nehmen sollte, ist es, sich selbst zu kennen, seinem Bauchgefühl zu vertrauen, die Arbeit zu erledigen, zu heilen. Lerne die Menschen in deinem Umfeld kennen, arbeite mit Einfühlungsvermögen und Achtsamkeit. Ich glaube, dass man aus dieser Authentizität heraus wunderschöne Bilder kreieren kann.“

Becky Ward

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